Glaube, Psychologie, Leben

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„Ist jemand krank, dann?“

Plädoyer für eine Patientengemeinschaft statt Kampf ums Rechthaben.

Darf ich erwarten, dass Gott mich heilt, oder soll ich geduldig meine Krankheit als mein Kreuz tragen? Muss ich nur richtig glauben, um geheilt zu werden, oder ist das ein gefährlicher Glaubensirrweg („Triumphalismus“, „Wohlstandsevangelium“)?

Was heißt krank? Wann bin ich gesund?

Seit längerem denke ich, dass wir, statt als unterschiedlich darüber denkende und empfindende Christen verbissen zu streiten, vielleicht eher fehlerhafte Denkvoraussetzungen aufdecken und ändern müssten und so den Streit überflüssig machen oder zumindest entschärfen könnten. Denn: Was verstehen wir unter krank und was unter gesund? In unserer Kultur gelte ich als gesund, wenn ich mich (einigermaßen) wohl fühle und arbeits- und leistungsfähig bin und kein medizinischer Zufallsbefund anzeigt, dass eine Bedrohung der so verstandenen Gesundheit vorliegen könnte. Vielleicht gehört für mich auch noch dazu, dass ich Beziehungen nach meinen Vorstellungen leben kann, auch sexuelle. Zusammenfassen kann man diese Sichtweise mit: Gesundheit entspricht Robustheit.

Was wäre, wenn Gott ganz anders über Krankheit und Gesundung (so der Titel eines sehr lesenswerten Buches von Erwin Reisner, kostenlos im Internet zum Download http://www.symbolon.de/downtxt/krankheit.pdf ) denkt als wir?

Wen spricht Gott als krank an?

„Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt da? Warum ist denn die Tochter meines Volks nicht geheilt?“ (Jer 8,22 Luther 2017)

Dieser Vers steht in einem Kapitel, in dem von Sünde die Rede ist, nicht von Krankheit in unserem Sinne, sondern von Götzendienst, Lüge, Abkehr von Gott usw. Gott selber und wohl auch Jeremia, das ist textlich kaum unterscheidbar, klagen verzweifelt über den kaputten („kranken“) Zustand des Gottesvolkes. Gott muss Gericht vollziehen, obwohl ER offensichtlich so gerne heilen möchte.

Was ist unter Sünde, diesem außer Mode gekommenen Begriff, eigentlich zu verstehen? Im Kern ist das jede Störung der Liebe und der liebevollen Beziehungsordnung, die Gott ursprünglich für uns vorgesehen hat. Wenn wir anfangen, diese tiefere Bedeutungsschicht zu meditieren, werden wir zweierlei entdecken:

  1. Jeder von uns ist tiefer und vielfältiger in Sünde verstrickt als wir auf Anhieb denken. Oder lebst Du vollständig in der Liebe?
  2. Dieses Abkommen von echter Liebe macht krank, ist krank, oder umgekehrt Krankheit und Kränkung stehen immer auch in einem Zusammenhang mit dem Verlorengehen von Gottes ursprünglicher liebevoll geordneter Welt.

Krankheit als Störung von Beziehungen

Halt! Dieser Gedanke heißt nicht, dass Krankheit im heutigen Verständnis automatisch etwas mit Liebesverlust oder Sünde zu tun haben muss. Und es heißt umgekehrt auch nicht, dass Gesundheit nach heutigem Verständnis mit Gottes liebevoller Ordnung übereinstimmen muss. Es hieße aber: Krankheit und Gesundung, wie sie in der Bibel offenbar verstanden werden, sind nicht identisch mit unserem modernen Verständnis, auch wenn es Überschneidungen gibt.

Denken wir das einmal weiter: Gott hat ursprünglich alles gut und als Ganzes dann sogar sehr gut geschaffen (Gen1,4+10+12+18+21+25+31). Und er schuf alles in Beziehung zueinander und den Menschen als Beziehungswesen. Ist der sogenannte Sündenfall im Kern nicht das Zerreißen bzw. die Störung der liebevoll von Gott geordneten Beziehungen: Zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und ganzer Schöpfung, zwischen unterschiedlichen Teilen der Schöpfung, zwischen unterschiedlichen Teilen, Organen, Zellen usw. innerhalb der Geschöpfe?

Wenn das so wäre, dann wäre auch verständlich, dass Jesus sowohl Sünde als auch Dämonisierung als auch Gebrechen, die uns geläufig sind, wie Blindheit, Lähmungen usw. mit dem Begriff „krank“ beschreibt und die Befreiung davon mit dem Begriff „Heilung“. Es wäre nicht nur metaphorischer Sprachgebrauch, sondern tiefe Seins-Realität: Alles sind Varianten von Beziehungsstörung und Jesus stellt bei jeder Heilung etwas von liebevoller Beziehungsordnung ganzheitlich wieder her, wenn auch in dieser Welt noch nicht vollständig.

Beziehung als universelles Merkmal

Übrigens trifft sich ein solcher Ansatz mit der modernen Physik, in der sich alles Materielle letztlich nur noch als ein Gefüge von (hier mathematisch beschreibbaren) Ordnungen von immateriellen Kräften fassen lässt: Beziehungen! Oder es trifft sich mit der modernen Systemik (systemischen Therapie), die alles unter dem Aspekt „Beziehungen zwischen Systemteilen“ mit bestimmten „Spielregeln“ betrachtet.

Wenn ich hier weiterdenke, fällt schnell auf, dass alle Beziehungsgefüge („Systeme“) unendlich komplex sind. Ein paar Beispiele:

In unserem Gehirn stehen Nervenzellen mit Nervenverbindungen mit Hilfe von Botenstoffsystemen miteinander in Beziehung: Ca. 100 Milliarden Nervenzellen (1011) mit ca. 1 Billiarde (1015) Verbindungen und mindesten 50 inzwischen bekannten Botenstoffen. Ein ganzer systemischer Kosmos an Beziehungen nur innerhalb meines Kopfes!

Oder: In unserem Körper leben geschätzt 10.000 Mikrobenarten, davon alleine im Darm ca. 3x 10 Billionen (1013) Bakterienzellen (ähnlich viel wie die Zahl aller unserer Körperzellen), von denen die meisten in hilfreicher Beziehung zu uns stehen (sog. Mikrobiom)!

Oder im sozialen Bereich: Kinder, Eltern, Geschwister, Nachbarn, Kollegen, Freunde, Sprachgruppen, soziale Schicht usw.: Beziehungen. Wir sprechen intuitiv passend dazu von kranker Wirtschaft, krankem Bankensystem, krankem Gesundheitssystem oder von „sanieren“ (von lat. „sanare“: heilen).

Unendlich viele Beziehungsdynamiken

Wenn wir nun alle uns bekannten Systeme als miteinander in Beziehung denken, kommen wir auf praktisch unendliche Beziehungsdynamiken sowohl da, wo es zu funktionieren scheint („gesund abläuft“) als auch im Bereich dessen, was wir als „krank“ identifizieren.

Die modernen systemischen Therapeuten haben längst vor der Aufgabe kapituliert, auch nur die Regeln eines einzelnen Systems zu durchschauen, um es planmäßig zu beeinflussen. Sie greifen – bescheidener geworden – zu Mitteln, festgefahrene Systeme aus dem Gleichgewicht zu bringen, in der Hoffnung, dass das sich im Folgenden spontan neu einstellende Gleichgewicht günstiger für die Betroffenen ist als das bisherige.

Sinnerfüllte Ordnung oder Chaos

Es wird für einen Christen daher schnell klar, dass nur noch der göttliche Arzt der Allschöpfer und Allerhalter ausreichend Durchblick haben kann, wo in diesen multiplen Systemgeflechten Beziehungen in sinnerfüllten Ordnungen laufen oder wo sie kranke Wege gehen.

Ich will das mit einer Anekdote veranschaulichen, die ich im Medizinstudium erlebt habe: Ein Neurochirurgieassistent stellte uns Studenten folgende Frage: Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Notaufnahme. Ein Mann wird nach einem schweren Autounfall eingeliefert und hat eine große offene Schädelwunde, durch die man das Gehirn sieht. Was machen Sie zuerst? Die meisten von uns dachten, dass man sich zuerst um diese Wunde kümmern muss, um das Gehirn zu schützen. Darauf klärte uns der Assistent auf, dass der Klient dann wahrscheinlich sterben würde. Warum das? Bei schweren Unfällen sind unsichtbare (!) innere Blutungen (z.B. in den Bauch oder in den Oberschenkel) sehr häufig. Die müssen zuerst überprüft und ggf. gestillt werden, sonst verblutet der Patient unsichtbar innerlich, während man sich um das Sichtbare kümmert. Übertragen habe ich daraus gelernt, dass es leicht passieren kann, dass wir uns um das gerade für uns sichtbare Kranke kümmern und viel Gefährlicheres für uns unsichtbares Krankes dabei übersehen.

Leider oft Beziehungschaos

Durch die ganze Bibel hindurch scheinen sich die Menschen inkl. des auserwählten Volkes tief in Beziehungschaos zu verstricken, zwischenmenschlich (Machtmissbrauch, Ausbeutung, Promiskuität u.v.m.) und in der Beziehung zu Gott (Götzendienst, Heuchelei). Jesus sagt sogar über die letzten Zeiten, dass die Ungerechtigkeit (anomia = Gesetzlosigkeit, Fehlen von Maßstäben) so überhandnehmen wird, dass die Liebe in Vielen erkaltet. Und ehrlich hingeschaut: Erleben wir nicht genau das heute und leider auch bei Christen nicht nur bei Nichtchristen und: Leider auch als Tendenz und Versuchung in mir selbst nicht nur bei anderen.

Bedeutet das nicht, dass jeder von uns unüberschaubar vielfältig in – aus Gottes Sicht – kranke Beziehungsdynamiken verstrickt ist? Das, was ich gerade als krank wahrnehme, wäre dann nur die sprichwörtliche Spitze vom Eisberg. Wir Menschen – auch wir Christen – könnten uns als eine große Patientengemeinschaft gegenüber dem göttlichen Arzt verstehen.

Gottes heilendes Eingreifen in unserer Zeit

Was ist dann aber mit solchen Verheißungen, dass Gott alle Sünde vergibt und alle Krankheiten heilt (Ps103) und dass wir in SEINEN Wunden geheilt sind (Jes53)?

Viele Christen sind inzwischen vertraut damit, dass uns einerseits in Jesus umfassend vergeben ist, wir uns diese Realität aber andererseits in Vergebungsprozessen persönlich zu eigen machen müssen und dass solche Vergebungsprozesse uns bis ans irdische Lebensende begleiten. Was wenn das bei Heilung (körperlich, seelisch, sozial, …) ganz genauso wäre?

Ja, Gott heilt alle meine Krankheiten und vergibt mir alle Sünden, aber ich erlebe das nach und nach und in einer Reihenfolge, über die letztlich der göttliche Arzt bestimmt. Einfaches Beispiel: Möchte Gott heute meine Erkältung heilen oder setzt er zuerst bei meiner Ungeduld an und ich muss den natürlichen Heilungsverlauf (der nebenbei auch ein Wunder ist!) abwarten.

Es sei auch daran erinnert, dass wir alle unser endgültiges Heil nur durch den Tod hindurch erlangen und dass wir vorher in der Regel im Altern herausgefordert sind, gut mit Gesundheits- oder genauer gesagt mit Robustheitsverlusten umzugehen.

Ein „beziehungsreiches“ Verständnis von Gesundung als Patientengemeinschaft

Wenn wir uns weg von unserem Kulturverständnis von Gesundheit als Robustheit hin zu einem ganzheitlichen „beziehungsreichen“ Verständnis von Gesundung bewegen, schwindet der Gegensatz von Glaubensheilungserwartung und geduldigem Tragen von Leid und Krankheit. Letztlich ginge es bei Heilung immer um ein tieferes Gottvertrauen und daraus dann ein Liebelernen, wie Gott liebt, in seinen vielfältigen Schattierungen.

Ja, wenn ich Gott um Heilung bitte, kann ich wirklich darauf vertrauen, dass sie geschieht, allerdings nicht unbedingt dort und auf die Art, wie ich es mir gerade vorstelle. Eine sofortige Heilung eines offensichtlichen Leidens kann genauso Ausdruck von Gottes Heilung sein wie Liebe und Geduld zu lernen im Tragen von Krankheit (eigener oder von Angehörigen).

Analog wäre es mit der Vorstellung, dass Christen, wenn ihr Glaubensleben in Ordnung ist, Wohlstand verheißen ist. Was bedeutet Wohlstand? Materieller Reichtum? Oder ein Wohl-sein in Gott (innerer Wohl-Stand) und auch: Ein für das Wohl anderer einstehen (Wohl-Stand) und ein wohl-wollend den Armen und Leidenden zur Seite Stehen (Wohl-stand). So verstanden müsste ein „Wohlstandsevangelium“ (die gute Botschaft vom Wohl-Stehen) nicht mehr den Geruch egoistischer Bereicherung haben. Ja ein solchermaßen ganzheitlicher Wohlstand stünde uns wohl an.

Statt ums Rechthaben und gegeneinander zu kämpfen, lasst uns lieber voneinander lernen! Wir alle brauchen lebenslang den göttlichen Arzt. Wir sind SEINE Patienten(gemein)schaft, eine Leidensgemeinschaft – „patiens“ lateinisch leidend – bis im vollendeten Heil alles heil wird.

Wolfram Soldan (Juli 2023)