Halt finden und Halt geben
Meine Nachbarin ist inzwischen über 80, sie ruft mich in letzter Zeit öfter an. Ihr machen Dinge Unruhe, sie kann nicht schlafen. Wie soll sie die steigenden Heizkosten bezahlen? Ich spüre, wie sie nach Halt sucht. Meist fällt es mir nicht schwer, ihr Mut zu machen. Auch meine Stimme klingt zuversichtlich.
Was ist es denn, was mir Halt gibt? Warum tut es mir gut, anderen Zuversicht zu geben?
Halt und der Einfluss von Gedanken
Wenn wir trösten, versuchen wir, den Blick und die Gedanken des anderen auf das Licht, auf das Hoffnungsvolle zu lenken. Manchmal müssen wir dafür nur einen kleinen Impuls geben, manchmal ist es aber auch nötig, deutlich und überzeugt einzugreifen, um der Entmutigung entgegenzutreten.
Genauso ist es mit meinen eigenen Gedanken, auch sie versuche ich zu lenken und zu schützen. Meine Gedanken brauchen Halt, es braucht Grenzen für Grübeleien, Ruhe für rastlose Sorgenschleifen.
Es gibt Gedanken – meist kenne ich sie schon lange – von denen ich weiß, dass sie mir nicht guttun. Da kann es wichtig sein, ein deutliches „Stopp“ zu setzen – die Psychologie spricht auch vom Gedanken-Stopp.
In der Bibel lesen wir vom „gefangen nehmen der Gedanken unter den Gehorsam Christi“. (2.Korinther 10,5)
Das können innere Selbstgespräche sein, die voller abwertender Selbstkommentare, Selbstmitleid und Misstrauen sind. Wir müssen diesen Gedankengängen nicht automatisch folgen, sondern können ihnen entgegentreten. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, was ich glaube. Wenn ich diesen abwertenden Selbstkommentaren Recht gebe, habe ich ihnen auch nichts entgegenzusetzen. Wo mir aber klar wird, dass es toxisch ist, was da in mir abläuft, dass es mich und meine Beziehungen vergiftet, ziehe ich eine Grenze.
Verantwortung übernehmen
Wir müssen uns schützen vor einem Übermaß an Abwertung, an Sorgen, an Druck, an Schuldgefühlen – einem Übermaß an allem, was unsere Gedanken in ungesunde Richtungen treibt.
Ich glaube, dass wir bei unseren inneren Selbstgesprächen selbstverantwortlich und frühzeitig die Kontrolle übernehmen können und dadurch Halt entsteht. Natürlich hilft es dann sehr, wenn ich nicht nur Stopp sage, sondern auch weiß, wo ich hin soll mit den Sorgen und den Schuldgefühlen und dem Misstrauen, und dass ich sie nicht selbst lösen muss, sondern ein Erlöser auf mich wartet und mich gern empfängt mit all diesen Lasten. Und manche Gedanken müssen auch zu Ende gedacht werden, müssen wahrgenommen werden, um eine Antwort zu finden, die in die Tiefe geht. Auch darin steckt eine haltgebende Fähigkeit: unterscheiden zu können, was dran ist.
Ausbalancieren können
Insofern ist innerer Halt auch eine Form der Balance, des Ausgleichs. Wie alle lebenden Organismen strebt unser Körper nach Homöostase, einem ausbalancierten Gleichgewicht von innen und außen. Wenn es außen zu viel wird für uns, streben wir nach innen, um uns abzuschotten. Wenn es sich innen leer anfühlt, streben wir nach außen, um uns wieder neu zu füllen. Ich kann nicht ununterbrochen geben, wenn ich nicht auch die Fähigkeit entwickle, zu nehmen. So bewegt sich unser ganzes Leben zwischen Polen: mal ist es dran zu kämpfen, und mal Dinge loszulassen. Dieses Schwingen zwischen den Polen, sich auszubalancieren, hat ganz viel mit dem Leben zu tun.
Paradoxerweise ist mein innerer Halt nichts Starres, sondern dass ich beweglich genug bin, um das zu tun, was der Zeitpunkt verlangt. Es gibt eine Zeit fürs Abbrechen und Zeit fürs Bauen, eine Zeit fürs Weinen und Zeit fürs Lachen … es gibt für alles eine Zeit. (Prediger 3,1) Wer sich dafür öffnet, gewinnt inneren Halt, um sich an die Überraschungen und Unwägbarkeiten des Lebens anzupassen und nicht daran zu zerbrechen.
Gehalten sein
Und natürlich geht es bei diesem Halt auch um die innere Gewissheit, gehalten zu sein. Dieses Gefühl entsteht aus unseren frühen Bindungserfahrungen. Wenn ein Baby erlebt, dass es sich lohnt zu rufen, weil eine Antwort kommt, dann erfährt es darin Halt und kommt zur Ruhe. Eine sichere Bindung entsteht, wenn die Bindungsperson einfühlsam und zeitnah auf die Signale des Kindes reagiert. Das kleine Kind erfährt dann die Bindungsperson als „sicheren Hafen“, den es gerne und beständig aufsucht. Von dort aus hat es eine sichere Basis, die Welt zu erkunden. Wenn die ersten Bindungserfahrungen allerdings nicht so günstig verlaufen, zeigen Kinder anderes Verhalten. Sie sind dann unsicher-vermeidend oder desorganisiert gebunden. Kurz gesagt, wissen sie nicht, ob der sichere Hafen wirklich sicher ist oder ob er überhaupt noch da sein wird, wenn sie von einer Erkundung zurückkehren. Unter Umständen ist der Hafen auch ein bedrohlicher Ort und es ist besser, ihn zu verlassen und nicht wieder aufzusuchen. Demzufolge ist auch kein Rückhalt vorhanden, um neugierig die Welt zu erkunden.
Halt (wieder) finden
Was ist mit uns, wenn unsere guten Bindungserfahrungen zu kurz gekommen sind? Bleibt dann nur die Haltlosigkeit? Zum Glück ist es nicht so. Die moderne Bindungsforschung zeigt, dass wir Bindungserfahrungen nachholen können, auch noch als Erwachsene. Unser Bindungssystem kann sich neu organisieren, es kann nachreifen. Auch durch das, was wir mit Gott erleben. Denn Gott nähert sich uns Menschen so, wie wir es für den Aufbau einer guten Bindung brauchen (in der Forschung werden Feinfühligkeit und Verfügbarkeit als Kennzeichen haltgebender Bindungspersonen genannt): Er begegnet uns feinfühlig und kennt unsere Bedürfnisse, er ist stärker und weiser als wir selbst und er hält die Beziehung aufrecht – er hat uns zuerst geliebt. Bindungserfahrungen mit Gott reorganisieren unser Bindungssystem. (vgl. Sonja Friedrich-Killinger, 2014. Die Bindungsbeziehung zu Gott. Ein dynamischer Wirkfaktor in der Therapie?). Menschen können nachreifen und einen sicheren Bindungsstil entwickeln. Das ist eine großartige Botschaft!
Halt geben und empfangen können
Und wie ist es mit meiner sorgenvollen Nachbarin weitergegangen? Sie hat sich selbst auf den Weg gemacht und einen Wohngeldantrag gestellt. Für die letzten Schritte hat sie mich um Hilfe gebeten und sich dann mit mir über die Bewilligung gefreut. Gott scheint uns auf zwei Arten Halt zu geben: einen Halt, den wir in uns als Stärke spüren, und einen Halt, den wir erleben, wenn andere uns halten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie beides erleben.
Monika Heß (April 2023)