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Das ist wirklich deprimierend!?

Manches in der aktuellen Situation (im Frühjahr 2020) ist wirklich deprimierend, es bedrückt und entmutigt mich. Privat kann ich meine erwachsenen Kinder, meine Geschwister, Eltern oder meine Freunde nicht wie gewohnt treffen. Die jüngeren Kinder sind zu Hause fast eingesperrt. Meine Urlaubsreise fällt aus, ein Fest oder Konzert nach dem anderen wird abgesagt. Beruflich kommt Kurzarbeit, ich kann Seminare nicht im direkten Kontakt mit anderen halten, soll mich an Internetkommunikation gewöhnen, Klienten online beraten… Und Woche für Woche wird deutlicher, dass das Ende sich weiter nach hinten verschiebt…

Werden wir alle in einer großen Depression landen?

Deprimiert, depressiv, Depression

In der Psychopathologie – der Lehre der seelischen Leiden – ist ‚deprimiert‘ ein Symptom des Niedergedrücktseins. Dieses Symptom kann vorübergehend auftreten, wenn ich z.B. Liebeskummer habe oder wie jetzt den Kontakt zu lieben Menschen vermisse, von denen ich Corona-Abstand halten muss.

Es kann aber auch ein erster Hinweis auf eine seelische Erkrankung oder Störung sein.

Depressiv‘ oder eindeutiger das Hauptwort ‚Depression‘ bezeichnet unter Fachleuten diese Erkrankung oder seelische Störung, die entsprechend psychotherapeutisch und medikamentös behandelt werden muss. [1]

‚Das ist wirklich deprimierend‘ – an Grenzen wachsen

Mit einem gewissen ‚Niedergedrücktsein‘ (wörtliche Übersetzung des aus dem Lateinischen stammenden Wortes ‚Depression´) müssen gerade einige von uns fertig werden. Das fühlt sich nicht angenehm an. Da wollen wir schnell wieder auf die Beine kommen.

Doch ich persönlich erlebe, dass in diesen Zeiten auch ein wichtiges Wachstumspotenzial liegt. In einem depressiven niedergedrückten Zustand erlebe ich mich an meinen Grenzen. Und wenn ich das zulasse, mir diese Grenzen bewusst anschaue, kann es zum Anstoß werden, über mein Leben, über Grenzen, die ich ändern kann und soll oder andere, denen ich zustimmen muss, über notwendige Richtungsänderungen… nachzudenken. In diesem Sinne kann sogar jede Depression zu einem Ort des persönlichen Wachsens werden. Ich betone das Werden, weil es in einer akuten tiefen Depression absolut überfordernd und gefährlich wäre, schon über mögliches Wachstum nachzudenken. Hier braucht es zuerst Entlastung der Betroffenen und ihrer Angehörigen, auch von oft vorhandenen Versagens- und Schuldgefühlen, Hilfen für die Tagesstrukturierung und ggf. Medikamente, manchmal auch die schützende Umgebung einer Klinik. Zu einem bestimmten sehr unterschiedlichen Zeitpunkt wird aber die Frage eines neuen Umgangs mit eigenen Grenzen zu einem wichtigen Thema, um weiterzukommen. In depressiven Zuständen unterhalb der Schwelle ‚psychische Erkrankung‘ – also im alltäglichen Niedergedrücktsein – stellt sich dagegen eigentlich immer die Wachstumsfrage.

Das alltägliche Niedergedrücktsein als Signal

Als erstes heißt dies, dass ich diesen Zustand nicht als bedauerliche Schwäche ansehe, die ich so schnell wie möglich überwinden muss, sondern als ein sinnvolles Signal meiner Seele oder meines Körpers (z.B. bei körperlich erlebter ‚Mattheit‘ oder ‚Matschigkeit‘), dass ich an Grenzen gekommen bin oder sie schon überschritten habe. Ein solcher ‚Depri‘ ist nämlich eine normale Folge davon, dass ich meine Grenzen zu wenig beachte, und sogar wichtig, wenn auch zuerst einmal unangenehm.

Denn wir laufen in unserem Leben meistens in die Richtung und mit den Aktivitäten weiter, womit wir bisher erfolgreich waren oder zumindest irgendwie ‚durchgekommen‘ sind. Meist erst, wenn wir an unsere Grenzen stoßen, denken wir über Korrekturen, Änderungen, Verbesserungen oder ganz neue Wege nach.

Im Psalm 119 in den Versen 67 und 71 beschreibt der Beter das gut.

„Ich bin viele Irrwege gegangen, bis ich in Bedrängnis geriet und schließlich umkehren musste. Daher will ich mich jetzt nach deinem Willen richten. … Für mich war es gut, dass ich in Bedrängnis geriet und schließlich umkehren musste. Denn da erst lernte ich, wie hilfreich deine Gebote sind.“ (Hoffnung für Alle)

Der Ausdruck ‚in Bedrängnis geraten‘ wird in den traditionellen Übersetzungen mit ’gedemütigt werden‘ übersetzt, wörtlicher sind auch ‚niedergebeugt‘ oder ‚niedergedrückt werden‘ möglich. Zwei entscheidende Dinge werden hier ausgesagt:

  • Es ist für den Psalmbeter letztlich gut gewesen, im Niedergeschlagensein an seine Grenzen zu kommen, sonst wäre er nicht vom falschen Weg umgekehrt.
  • Die neue Richtung, die er entdeckt hat, wird durch den Willen, die Weisung und die Grenzsetzungen Gottes bestimmt statt von seinen bisherigen Vorstellungen.

Gottes Perspektive erfassen

Im Deprimiertsein stoße ich an meine Grenzen, ich fühle mich nicht mehr erfolgreich, kraftstrotzend, Herr der eigenen Lage. Ich bekomme einen Anstoß, darüber nachzudenken, dass ich nicht autonom bin, sondern ergänzungsbedürftig.

Gott kann dem Menschen auf verschiedene Weisen seinen Willen zeigen, ob es ihm gerade gut geht oder nicht. Aber richtig ist, dass ich oft erst genauer hinhöre, wenn ich mit dem Verwirklichen meiner Vorstellungen an Grenzen stoße und ‚in mich gehe‘, was ich meist als ‚Niedergedrücktsein‘ erlebe. Als Christ erinnere ich mich dann verstärkt an Gottes Wort – die Bibel. Psalm 119, aus dem die zitierten Verse stammen, ist ja ein 176 Verse langer Lobpreis auf Gottes Wort.

Wir haben bei IGNIS in den letzten Jahren den Emotional Logic Ansatz kennengelernt, eine Methode, den Umgang mit den eigenen Gefühlen angesichts von Schwierigkeiten zu verbessern. Eine der sieben emotionalen Reaktionsweisen in Schwierigkeiten hat im englischen Original die Bezeichnung ‚Depression‘ in Deutsch NIEDERGESCHLAGENSEIN. Dieses NIEDERGESCHLAGENSEIN wird in diesem Ansatz als Ort der Weisheit interpretiert, wo ich angesichts meiner Grenzen neu überdenke, was ich annehmen oder loslassen kann und was ich an mir oder in meiner Umgebung sinnvoll verändern kann.

Grenzerfahrung und die Bereitschaft, die wichtigen Fragen zu stellen

Gott ist unsichtbar und er drängt sich uns gewöhnlich nicht auf. Außerdem ist SEINE Perspektive – in der Bibel ‚Reich Gottes‘ genannt – herausfordernd anders als unsere alltägliche Sicht. So scheint es leichter, ihr auszuweichen als sich ihr zu stellen. Die täglichen Anforderungen meiner Umgebung, meine Gewohnheiten, meine Vorlieben und meine Befürchtungen höre ich meist viel lauter als die leise Stimme Gottes. Wenn ich niederdrückende Gefühle und Leibwahrnehmungen als Grenzsignale bewusst wahrnehme und mich sozusagen ‚ausbremsen‘ lasse und an den Straßenrand fahre, kann ich dort viel besser auf die leise liebevolle Stimme meines Herrn hören als bei voller Fahrt.

Dies gilt für alle Menschen: Wenn ich im ‚Depri‘ an meine Grenzen stoße und auf diese achte, werde ich aus dem bisherigen Tritt gebracht und kann dies zum Anlass nehmen, über eine neue Gangart oder eine neue Richtung in meinem Leben nachzudenken. Dieses dann neu Entdeckte war vorher, als alles glatt lief, für mich unsichtbar (wie Gott für uns Christen) und kann jetzt aber real werden für mich.

Gerade sind wir durch die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote, die die Coronaverbreitung verlangsamen sollen, in unseren gewohnten Aktivitäten ausgebremst und dadurch und durch die täglichen schlimmen Nachrichten immer wieder auch niedergedrückt, deprimiert – zumindest kurzzeitig. Ich kann lernen, dies als Chance zu akzeptieren, Ja zu sagen zu Ungewohntem, sowohl zu ungewohntem Verzicht (Grenzen annehmen) als auch zu ungewohnten neuen Ideen und Wegen (kreativ werden aus der Ruhe und aus dem Hören). Einerseits bin ich der Krise ausgeliefert. Aber niemand kann mich daran hindern, durch sie hindurch zu wachsen.

Wolfram Soldan (Mai 2020)

[1] Eine gute Informationsquelle in Bezug auf Depression ist die Homepage www.deutsche-depressionshilfe.de, wo man auch eine kostenlose Infotelefonnummer (0800/3344533) nutzen kann. Außerdem kann sich jeder in einer akuten Krise an seinen Hausarzt oder die nächstgelegene Versorgungspsychiatrische Klinik (in Bayern meist die Bezirkskliniken für Psychiatrie) wenden.