Weihnachten und Martha und Maria…
Wolfram Soldan lässt Maria erzählen:
Er fühlte sich immer wohl bei uns.
Meine Schwester sorgte umsichtig dafür, dass es ihm und seinen Begleitern an nichts fehlte. Mein Bruder fühlte sich geehrt, dass er, der bekannte Rabbi und Wunderheiler, zu ihm kam. Und ich: Ich saß am liebsten nur da und hörte ihm zu.
Offensichtlich hatte er uns sehr gern und besuchte uns, wenn er in der Gegend war. Ich freundete mich auch mit seiner Mutter an, die oft dabei war. So wie ich hörte sie ihm am liebsten zu und dachte genau über jedes Wort nach, das ihr Sohn sagte.
Doch eines Tages, als er kam, war die Stimmung irgendwie schwerer.
Einige Begleiter erzählten wie üblich von den neuesten Wundern: Gerade hatte er einem Vater sein Kind geheilt zurückgegeben, obwohl seine Schüler dies nicht geschafft hatten. Kurz danach erhielten sie selber solche Vollmacht und vollbrachten Wunder.
Trotzdem waren sie stiller und nachdenklicher als sonst. Ich fragte seine Mutter und sie nahm mich beiseite und erzählte mir: „Er leidet. Niemand unterstützt ihn bei dem, was anscheinend bald nötig wird. Nicht einmal seine eigenen Schüler verstehen ihn.“ „Was meinst du damit?“, fragte ich. „Er hat jetzt schon zweimal davon gesprochen, dass er leiden muss, ausgeliefert und verworfen werden, ja dass er getötet und dann auferweckt werden muss. Ich merke, wir wehren uns alle innerlich gegen solche Worte, können und wollen nicht verstehen. Mich erinnert es aber an die Worte des alten Propheten im Tempel, als mein Sohn noch ein Baby war: „Auch deine eigene Seele“, sagte er zu mir, „ wird ein Schwert durchdringen –, damit die Überlegungen vieler Herzen offenbar werden.“
Wie bei jedem Besuch hat der Rabbi uns viel erzählt.
Mir ist besonders in Erinnerung geblieben, was er über das Gebot der Nächstenliebe sagte. Jemand hatte ihn unterwegs gefragt, wer denn der Nächste sei, den man lieben solle, und wer nicht, und er hatte ihm mit einem provozierenden Gleichnis geantwortet, in dem nur ein verachteter Fremder einem ausgeraubten Verletzten half, während unsere frommen Vorbilder vorbeiliefen. Am Schluss der Geschichte drehte er ganz unauffällig die Perspektive um, indem er fragte: „Wer ist nun der Nächste geworden für den, der unter die Räuber gefallen war?“ Ich begann zu begreifen: Wenn ich frage, wer mein Nächster ist, will ich wissen, um wen ich mich kümmern muss und um wen nicht, um das Gebot einzuhalten. Also: Was muss ich tun, um es richtig zu machen und vielleicht auch, um unangreifbar zu sein. Wenn ich aber frage „Will ich Nächster sein für …“, dann geht es um meine Barmherzigkeit oder eben Unbarmherzigkeit, es geht plötzlich nur noch um mein Herz.
Wie ich ihn so ernst und tief reden hörte, dachte ich mir: „Wieso muss er leider oder getötet werden? Das verstehe ich genauso wenig wie seine Schüler. Aber wenn es doch sein muss, dann möchte ich ihn auf seinem Weg unterstützen, auch ohne Verstehen.“
Ich war so ins Hinhören und Nachsinnen vertieft,
dass ich völlig vergaß, dass ich ja versprochen hatte, meiner Schwester bei den Essensvorbereitungen zu helfen. Sie war ziemlich sauer und warf sogar unserem geliebten Rabbi vor, es sei ihm wohl egal, wenn ich mal wieder lieber zuhörte und sie, die Schwester, alles alleine machen müsse. Die Antwort des Rabbis erstaunte mich. Freundlich gab er ihr zu verstehen, dass sie, in ihrer Besorgtheit und Umtriebigkeit, etwas Wichtiges ganz übersehen würde: Ich, ihre Schwester, hätte eine gute Wahl getroffen, wenn ich mich auf das Hinhören konzentrierte.
Dann kamen die schlimmen und großen Tage mit der Krankheit unseres Bruders. Als es mit ihm immer mehr bergab ging, sandten wir zum Rabbi, damit er rechtzeitig komme, um ihn zu heilen, wie er so viele schon geheilt hatte. Er hatte uns ja schließlich gern und wir vertrauten ihm. Doch er ließ sich einfach Zeit und wir wurden unruhig und ängstlich und schließlich doch zweifelnd, weil sich unser Bruder immer mehr dem Tode näherte und dann einfach starb.
Der Meister war nicht gekommen!
Ich war wie gelähmt. Meine Schwester dagegen, wie immer gerade in Krisen, wurde aktiv: Sie ging ihm entgegen, um mit ihm zu reden. Uns trieb dasselbe um, so dass wir – wie ich später erfuhr – dieselben Worte auf den Lippen hatten, als wir den Meister sahen: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben!“
Als sie wiederkam, sagte sie zu mir, dass mich der Rabbi zu sich rufen würde. Das riss mich sofort aus meiner Lähmung und ich lief los. (Vielleicht hat er mich gar nicht gerufen und meine Schwester wollte mich nur in Bewegung bringen. Wie dem auch sei…).
Als ich ihn dann sah und weinte und sagte: „Wenn du hier gewesen wärest…“ war er sichtlich bewegt und auf dem Weg zum Grab weinte auch er. Ehe ich mich versah, waren wir dort und der Rabbi befahl, den Stein wegzuwälzen. Entsetzt sagte meine Schwester: „Herr, er riecht schon, denn er ist vier Tage hier.“, worauf er erwiderte: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Ich denke, er muss einiges mit ihr geredet haben, bevor ich ihn traf.
Und dann sahen wir die Herrlichkeit Gottes,
als der Meister unseren Bruder aus dem Grab rief und er wieder lebendig vor uns stand. Absolut unfassbar!
Nur – bald danach hörte ich wieder davon, dass der Rabbi von seinem eigenen Tod, eigentlich seinem Hingerichtetwerden sprach. Wie passte das zusammen: Herr über Leben und Tod, Lebensbringer, und dann soll er schmählich hingerichtet werden? Klar, viele unserer Frommen hatte er wütend und eifersüchtig gemacht, weil er ihre Heuchelei aufdeckte und alle ihm nachliefen, da verstehe ich, dass sie ihn umbringen wollen. Aber er kann das doch leicht verhindern.
Als in unserem Dorf ein Festmahl zu Ehren unseres auferstandenen Bruders und des Rabbis veranstaltet wurde, ergriff ich die Initiative.
Ich dachte:
Die einen wollen ihn töten, die anderen verstehen nicht, dass er sich anscheinend töten lassen will und er steht damit völlig allein. Ich verstehe es auch nicht. Er hat aber auch etwas von Auferstehen gesagt, was ich auch nicht verstehe. Aber vielleicht gibt es da einen versteckten tieferen Sinn. Das weiß man bei ihm nie…
Ich wusste aber, dass ich ihm in seiner Einsamkeit irgendwie helfen wollte. Also nahm ich mein Fläschchen mit dem teuren wohlriechenden Salböl, ein Großteil meiner Mitgift im Falle meiner Heirat, platzte in die Festgemeinschaft rein und salbte den Meister mit dem Öl. Seinen Kopf. Dann erinnerte ich mich an die Geschichte, die seine Mutter mir erzählt hatte, dass eine Hure ihm die Füße gesalbt hat – aus Liebe – und Vergebung von ihm empfangen hat, und ich salbte ihm auch die Füße.
Einige waren entsetzt und murrten über die Verschwendung. Man hätte das teure Öl doch besser verkaufen und Arme damit unterstützen können. Auch der, der ihn direkt danach verriet, fuhr mich so an.
Und da, da sagte der Rabbi etwas, was ich nie vergessen werde:
„Lasst sie! Was macht ihr ihr Schwierigkeiten? Sie hat ein gutes Werk an mir vollbracht. Arme habt ihr immer bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen wohltun. Mich aber habt ihr nicht allezeit bei euch. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat im Voraus meinen Leib zum Begräbnis gesalbt. Und es ist wahr, wenn ich euch jetzt sage: Überall, wo die gute Botschaft vom Reich Gottes verbreitet werden wird, in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, so dass man sich an sie erinnert.“
Ich wollte ihn irgendwie trösten und wurde angefahren und wie tief haben seine Worte mich dann getröstet.
Ganz verstehen konnte ich das alles aber noch nicht.
Später als wir zu begreifen begannen, warum er sterben musste, sprach ich mit meiner Schwester darüber und sie sagte:
„Weißt du, ich wollte immer was tun für IHN. Und wenn ich zuhörte, wollte ich verstehen, um zu wissen, was ich für ihn tun konnte. Ich glaube, den Schülern ging es oft ähnlich. Du wolltest einfach nur bei ihm sein und zuhören und ich habe mich im Stich gelassen gefühlt und geärgert, wenn du darüber mal wieder die Arbeit vergessen hast.
Aber als ER unsere Unterstützung am meisten brauchte, sich auf sein Leiden und Sterben vorbereitete, es nicht ums Tun ging, sondern ums Beistehen, da haben wir alle versagt, nichts verstanden und ihn alleine gelassen; wie ich hörte, sogar seine engsten Mitarbeiter kurz vor seiner Hinrichtung.
Du warst die Einzige, die da aktiv wurde und ein Zeichen setzte,
ein Zeichen zu SEINER Unterstützung auf SEINEM Weg, obwohl du das Ganze auch noch nicht verstehen konntest.“ „Stimmt.“, sagte ich und sie fuhr dann mit etwas fort, was ich von meiner Schwester nie erwartet hätte:
„Jetzt verstehe ich, warum der Rabbi sagte, du hättest das Gute gewählt, was dir nicht genommen wird. Dir war Zuhören und bei IHM sitzen wichtiger als mir zu helfen. Ich glaube ‚bei IHM Verweilen und Hören‘ ist das eigentliche Fundament, aus dem dann ein Tun entspringen kann, das wirklich erinnerungswürdig ist, wie deine Salbung für den Tod im Voraus. Ja, du hast das gute Teil erwählt, und …“, da schmunzelte meine Schwester hintergründig: „… ausnahmsweise möchte ich einmal von dir lernen!“
Soweit die Geschichte.
Ich wünsche mir für diese herausfordernden Zeiten, dass auch wir von dieser Frau lernen können. Denn wenn wir, wie die Rabbischüler und die Schwester in der Geschichte, umhergetrieben von allen möglichen Informationen aktiv werden für eine gute Sache oder sogar für Jesus, verpassen wir vielleicht das Wichtigste: Zur Ruhe kommen und Hinhören. Nur so konnte diese bemerkenswerte Frau wahrnehmen, was der Rabbi wirklich brauchte.
In der von Corona-Maßnahmen geprägten Weihnachtszeit 2020 kann uns vieles an- und umtreiben: Sorgen um Gesundheit, bürgerliche Freiheit, wirtschaftliche Existenz, … Wir werden konfrontiert mit verschiedensten Theorien und Informationen bis hin zu Verschwörungstheorien, dass die Pandemie eine Erfindung interessierter Kreise sei. Damals, bei Martha und Maria, war wirklich eine Verschwörung im Gange gegen diesen Rabbi, in die sogar einer seiner engsten Mitarbeiter verwickelt wurde, der ihn verriet.
Was Gott mitten in dieser Situation wichtig war, so dass er es der Nachwelt übermittelt hat, war „zur Ruhe kommen und Hinhören“… Ich glaube, nur so können wir in turbulenten Zeiten unterscheiden lernen, wann und welche Aktivität wirklich „guttut“ und welche nur ein „Herumgetriebensein von Vielem“ darstellt.
Eine in diesem Sinne „weise Weihnacht“ wünscht Ihnen/Euch
Wolfram Soldan
Zum Text:
Dieser Text ist eine „biblische Ich-Erzählung“, eine Art, wie wir für uns persönlich biblische Texte und Aussagen erschließen können, indem wir uns „in die Geschichte“ und „in das Erleben einer Person“ hineinversetzen. In der Form, wie Wolfram Soldan es hier konzipiert hat, ist es keine freie Nacherzählung, sondern der Text lebt einerseits vom genauen Studieren der die Person betreffenden Bibelabschnitte (u.a. Mt 26, 6ff, Joh 11, 1ff, Joh 12, 1ff) und andererseits vom Einnehmen der Ichperspektive. Damit ersetzen wir nicht Lehre, theologische Auslegung oder das fortlaufende Lesen, sondern können, gerade wenn wir schon lange mit der Bibel vertraut sind, manch überraschend neue Einblicke in Botschaften und Zusammenhänge im Wort Gottes erhalten.