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Ärgerlich werden wir – aber brauchen wir das?

Ärger, Zorn, Aggression, diese Gefühlslage erleben wir höchst kontrovers: berechtigt oder peinlich, als Kraftquelle oder als Charakterschwäche, als angenehme oder unangenehme Emotion…

Einige psychologische Schulen betrachten Aggression als eine für das menschliche Leben notwendige Durchsetzungsenergie. Es gibt aber auch Meinungen, z.B. inspiriert vom Buddhismus, die Aggression als etwas grundsätzlich Destruktives ansehen, das Menschen überwinden sollten. Das ist eine Überzeugung, die auch in manchen christlichen Kreisen mehr oder weniger bewusst vorherrscht.

Wenn man das unbestreitbare Zerstörungspotential ärgerlicher Reaktionen betrachtet, ist dieses Negativurteil durchaus nachvollziehbar.

Dabei sollten wir zunächst unterscheiden

…zwischen Ärger oder Zorn als einem Gefühl, einer Emotion, und Hass, einer weit über das Gefühl hinausgehenden inneren Haltung, die auf Vernichtung des Gehassten abzielt. Hass ist damit fast immer destruktiv und deshalb ethisch negativ zu bewerten. Ärger als Gefühl dagegen ist meines Erachtens, wie jedes Gefühl, zuerst einmal eine in den Menschen eingebaute Reaktionsmöglichkeit. Ethisch bewertbar wird Ärger erst durch Art und Zusammenhang seiner Äußerung.

Ich gehe ich davon aus, dass alle grundlegenden Gefühle des Menschen sozusagen festeingebaute Möglichkeiten sozialer Wahrnehmung und sozialer Reaktion sind, die konstruktiv aber auch destruktiv in Beziehungen wirken können.

Als Christ sehe ich die grundlegenden Emotionen als etwas an, was zur gottebenbildlichen Schöpfung Gottes gehört.

Ärger oder Zorn als Teil unserer Gottebenbildlichkeit?

Das mag erstaunen, doch ich glaube, dass in unserer Kultur zu wenig von positivem Zorn die Rede ist und wir auch wenig derartige Vorbilder wahrnehmen. Ärger und Zorn begegnen uns viel häufiger unbeherrscht, überschießend, machtmissbrauchend und damit zerstörerisch.

So ist auch die Rede vom Zorn Gottes als etwas Wichtigem und Gutem nahezu ausgestorben in unserer Theologie. Der zornige Gott taugt eher als Karikatur für ein angeblich veraltetes Gottesbild.

Doch Zorn, Ärger, Wut sind ein häufiges Thema in der Bibel. Schauen wir uns den Wortstamm „zorn, zornig, zürnen“ z.B. in der Konkordanz der Elberfelder Übersetzung an, so überrascht das Ergebnis: Allein dieser Begriff kommt ca. 400mal vor, davon 50mal im NT (in der neuen Lutherübersetzung sogar noch häufiger). Und jetzt das Spannende: Über die Hälfte der Textstellen spricht vom Zorn Gottes (nicht von menschlichem Zorn) und zwar vom Zorn auf die Sünde des Menschen. Und dieser Zorn wird als gerecht angesehen.

Menschlicher Zorn wird in der Bibel überwiegend ohne Wertung beschrieben, am zweithäufigsten mit negativer moralischer Bewertung und am seltensten im Sinne des gerechten konstruktiven menschlichen Zornes. Damit zeigt die Bibel ihren typischen Realismus in der Beschreibung der menschlichen Psyche, wo wir Zorn häufiger destruktiv als konstruktiv erleben. Und dass wir ihn so erleben, liegt meines Erachtens mit daran, dass wir ihn oft unterdrücken und verleugnen und er sich dann unkontrolliert an bestimmten Stellen Bahn bricht und Zerstörung anrichtet. Würden wir uns bewusst mit ihm auseinandersetzen und ihn zu nutzen lernen, wären wir besser dran.

Dem Zorn Gottes gegenüber verhalten wir uns innerlich oft wie typische Kinder: Wir erleben diesen Zorn als schlimm, vielleicht sogar als böse, da wir in unserem kindlich begrenzten Erkenntnishorizont das liebevolle Korrektur- oder Erziehungsziel Gottes nicht erkennen können. Eine Rolle spielt hier sicher auch, dass wir alle den Zorn unserer Eltern (zu Recht) keineswegs immer als gerecht und angemessen erlebt haben und das (unbewusst) auf Gott übertragen.

Wie kann ich mir den Zorn als Geschenk Gottes vorstellen?

Positiv kann Zorn in der Bibel als ein Wahrnehmungsorgan für Ungerechtigkeit oder Sünde und gleichzeitig als Energiequelle für den Kampf dagegen verstanden werden.

In der Bibel taucht 10x die Formulierung auf „langsam zum Zorn“ (und groß an Güte/Huld), neunmal auf Gott bezogen (immer AT), einmal in Jak 1,19 auf uns Menschen bezogen, die sich an Gottes Beispiel orientieren sollen: „[Es] sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn.“ Es heißt bezeichnenderweise hier nicht: Ohne Zorn. Guter Zorn ist also offensichtlich ein gebremster kontrollierter Zorn. Für unsere Kultur passt hier der Vergleich mit Benzin: Unkontrolliert ausgeschüttet und entzündet ist es zerstörerisch und explosiv. Wird seine Energie mit bestimmten Techniken aber kontrolliert freigesetzt, z.B. in einem Feuerzeug oder einem Verbrennungsmotor, kann Benzin höchst nützlich sein.

Ganz praktisch auf Zorn übertragen müssen wir uns noch einmal die beiden möglichen nützlichen Funktionen von Zorn klarmachen:

  • Zorn kommt auf, wenn ich etwas für ungerecht, schlimm, gemein etc. halte. Zorn kann also ein Indikator, ein Wahrnehmungsorgan für Unrecht (biblisch Sünde) sein.
  • Zorn kann mir auch die Energie und den Mut verleihen, etwas gegen erkanntes Unrecht zu unternehmen und mich zu wehren.

Jeder kennt die Situation, in der ein anderer meine Grenzen missachtet, obwohl ich ihn höflich darauf aufmerksam gemacht habe. Dann hilft nur ein angemessenes Maß an Zumischung von Zorn zu meinem ‚Nein‘, damit dieses ‚Nein‘ von meinem Gegenüber beachtet wird. Oder wenn ich z.B. etwas Schwieriges ansprechen muss und davor Angst habe, kann es hilfreich sein, ärgerlich auf meine Angst oder die ungelöste Situation zu werden und mit der Energie dieses Ärgers die Hemmschwelle zu überwinden. An beiden Beispielen wird deutlich, dass das nur konstruktiv funktioniert, wenn ich die Zornenergie kontrolliert in angemessener Dosierung zur Anwendung bringe: Zu schwach kommt sie nicht zur gewünschten Wirkung, zu stark führt sie zu unnötigen Beziehungsstörungen.

Und warum gibt es scheinbar mehr Beispiele für unkontrollierten oder destruktiven Zorn als für konstruktiven?

Es kann sein, dass eine konstruktive Nutzung von Zorn oft gar nicht als Zorn wahrgenommen wird. Ein Beispiel aus der Bibel: Jesus war am Grab von Lazarus (Joh 11,33ff) von Zorn und Schmerz erfüllt, bevor er auferweckend handelte. Die griechische Wendung für Zorn (wörtlich „schnauben“) kann auch mit aufgewühlt sein übersetzt werden. Ein Übersetzer dieses Textes wird also, je nachdem, ob er eine Zornreaktion von Jesus hier verständlich findet oder nicht, wohl unterschiedlich übersetzen. Und so nennen wir manches, was konstruktiver Zorn ist, im Alltag oft auch nicht so. Umgekehrt ist destruktiver Zorn in den Massenmedien ebenso wie in unseren Alltagsunterhaltungen eine „interessantere“ Nachricht als konstruktiver Zorn. Konstruktiver Zorn wird also eher unterbelichtet, destruktiver eher überbelichtet.

Schließlich: Wie passen Sanftmut und Zorn zusammen?

Eine sanftmütige Herzenshaltung, wie Jesus sie hatte und wie wir sie von ihm lernen sollen (Mt 11), ist fähig, jederzeit auf Machtausübung, auf Gewalt und Zornausbrüche zu verzichten, sich also zurückzuhalten. Das heißt aber nicht, dass ein von Herzen sanftmütiger Mensch auf Zorn verzichten müsste, wenn die Situation das Zeigen von gerechtem Zorn erfordert. Der Sanftmütige kann, muss aber nicht, auf Zornäußerung verzichten.

Jesus war immer sanftmütig jedoch nicht in jeder Situation sanft.

Da können wir bestimmt noch viel von ihm lernen!

Wolfram Soldan (3. Juli 2020)