Die große Welt in einer Glaskugel
Mit Worten Wirklichkeit schaffen…
Vor Jahren hat mich eine kleine Bemerkung von Isabel Allende aufhorchen lassen. Sie schrieb darüber, wie ihr Blick für die große Welt geöffnet und die Liebe zu ihr geweckt wurde. Und dabei spielten Worte und eine Glaskugel eine Rolle … lesen Sie hier weiter oder hören Sie im Podcast, um was es ging!
In ihrer Kindheit, in der überschaubaren, sehr einheitlichen Umgebung ihrer reichen chilenischen Familie und Nachbarschaft, gab es nur einen einzigen Onkel, der aus der Reihe fiel. Er wollte in Indien Erleuchtung finden, kam nach einiger Zeit jedoch erfolglos zurück, mit nichts als einer Menge spannender Geschichten im Gepäck. Und die erzählte er den Kindern. Er nahm dabei eine Glaskugel in die Hand und ließ darin fremde Welten erstehen: Elefanten, duftende Pflanzen, Menschen mit verschiedensten Abenteuern…
Fremde Welten werden lebendig
Ich konnte mir so gut vorstellen, wie er da inmitten einer Kinderschar erzählt und wie die Kinder mit offenem Mund zuhören und all das Wunderbare vor ihren Augen in der Glaskugel lebendig wird.
Und spontan erinnerte ich mich an Menschen in meiner Kindheit, die mir eröffnet haben, was es jenseits unserer Siedlung noch alles gibt: meine Mutter, die von ihrem Kinderleben auf dem schlesischen Bauernhof erzählte (sodass meine Geschwister und ich einige Jahre überzeugt waren, wir wollten Bauern werden, und in unserem Garten schon einmal geübt haben, Heu zu machen), oder eine Lehrerin in der Schule, die uns im Klassenzimmer-Sandkasten aufgebaut hat, wie ein Fluss aus der Quelle entspringt und dann durften wir es regnen lassen und es kam wirklich Wasser aus dem Berg, dort, wo wir die Tonschicht eingebaut hatten, und es hat sich ein Flussbett in der vorbereiteten Landschaft gegraben (das haben wir zuhause in unserem Sandkasten natürlich auch gleich ausprobiert).
Die Kraft der Worte ist groß
Es ist wirklich etwas sehr Kostbares, dass wir uns so gegenseitig die Welt erschließen können und Fremdes im Erzählen schon einmal vertraut wird.
Die Kraft der Worte ist dabei groß… doch leider nicht nur in positiver Richtung.
Gerade aus der Beratung kennen wir auch die andere Richtung: „Du Nervensäge“, – „Aus dir wird nie etwas“ – „Schon wieder versagt“ – „Da dachte ich, es wird endlich besser, doch dann passierte schon das nächste Unglück…“
Geschichten von Missachtung, Zerstörung, Versagen, Gewalt, Unterdrückung, schlimmen und immer schlimmeren Belastungen… die lassen die Glaskugel der Wirklichkeit nicht bunt erstrahlen, sondern wir erschrecken beim Anblick der dunklen Brüchigkeit.
Geschichten vom Leben erzählen
Manchmal können Worte hier wiederum helfen: Neue Überschriften finden, die den Schwerpunkt auf die hellen Seiten legen, auf die Spuren von Leben und Gelingen. Nicht dauernd den Mangel beklagen und dadurch vergrößern, sondern „Habende sein“, das heißt das wahrnehmen und schätzen, was es an Gutem gibt. Wie viel habe ich schon bewältigt, was konnte ich bewirken, wer hat mich unterstützt, was waren die Lichtblicke in schweren Zeiten…
Das ist eine wichtige Umkehr, ein neuer Blick, den wir für uns selbst und mit anderen behutsam vollziehen können und aus dem Hoffnung und Kraft erwachsen.
Aber natürlich darf es kein Schönreden werden. Das Schlechte darf nicht verharmlost und das Gute nicht oberflächlich herbeigeredet werden.
Das wissen wir, im Prinzip.
Glas nicht zerbrechen
Das Bild von der Glaskugel ist für mich eine Erinnerung, in allem Reden wirklich achtsam zu sein, denn Glas ist zerbrechlich.
Es ist nicht egal, was ich sage, wie ich mich selbst, eine Situation, bestimmte Begebenheiten darstelle, welche Begründungen, Urteile und Ausblicke ich in meine Worte lege.
Was bewirkt mein Reden – bei mir? Und was hört der andere, zu dem ich etwas sage, was bewirkt es bei ihm? Leben, Klarheit, Wahrheit… oder Dunkelheit?
Ja, eine Glaskugel ist zerbrechlich, da will ich nicht achtlos Worte hineinwerfen und bei anderen Schaden anrichten. Und ich will auch vorsichtig mit dem sein, was ich in meine Glaskugel fallen lasse, soweit ich Einfluss darauf habe, welche Worte in mein Leben gesprochen werden.
Gerade erleben wir in Bezug auf den Krieg in der Ukraine, wie die Worte das, was passiert, so unterschiedlich darstellen können, und welche massiven Auswirkungen bestimmte Erzähl- und Erklärungsstränge haben. Wer ist im Recht oder schuldig, Opfer oder Held, was soll man befürchten, was hoffen?
Das letzte Wort
Was mir am Bild der Glaskugel als Letztes wichtig ist – klar – : Das richtige Wort zur rechten Zeit können wir alle einmal verfehlen. Aber es gibt einen, der mit seinem Wort meine und deine und unsere gemeinsame große Glaskugel in seiner Hand hält. Der sie geschaffen hat und erhält. Der selbst die Wahrheit ist und weiß, was aufbaut, zurechtrückt und wie lange es gut ist, wachsen und reifen zu lassen, auch Unkraut neben dem Weizen.
Wir sind berufen, mit ihm zu schaffen und zu erhalten. Wir sind verantwortlich dafür, wie wir das tun. Aber das letzte Wort hat er.
Agnes May, 04.04.2022