Meine Alternative zu Polarisierung und Spaltung
„Wer sich nicht impfen lässt, ist unverantwortlich und bringt unschuldige Leben in Gefahr!!!“ – „Wer sich impfen lässt, fällt auf die Fake News unserer Wirtschafts- und Politelite herein!!!“ “Wer…”
Im Netz lese ich, wie man sich im Für und Wider gegenseitig beschimpft oder als Mörder bezeichnet. Aus Familien höre ich, dass keine Familientreffen mehr möglich sind, da Coronaleugner und Impfbefürworter nicht mehr an einen Tisch kommen. Am Arbeitsplatz gibt es Diskussionen, in Gemeinden Probleme… auch mit konträren frommen Argumentationslinien wie: „Impfen ist ein Akt der Nächstenliebe und Christenpflicht.“ – „Gott schützt mich, ich brauche keine Impfung.“ – „Wer sich impfen lässt, nimmt das Malzeichen des Tieres aus der Offenbarung an.“…
Polarisierung zerrt, zehrt und zieht nach unten
Wir werden hin- und hergezerrt – nach rechts, links, vorne, hinten – und das Leben wird manchmal sehr verwirrend und anstrengend. Und mitten darin werden wir aneinander schuldig und das Ganze zieht uns oft nach unten, zumindest mich.
Dann muss ich an das denken, was Jesus in Mt 24,12 sagt (zitiert nach der Übersetzung „Das Buch“): „Weil die Menschen immer mehr gegen Gottes guten Willen aufbegehren werden, wird die Bereitschaft abnehmen, anderen in selbstloser Liebe zu begegnen.“
Oh ja, diese Bereitschaft erschöpft sich auch in mir von Zeit zu Zeit.
Das Herz erheben
Aber ich glaube, es gibt eine Richtung, wie wir das nach unten ziehende Gezerre überwinden können. In der Abendmahlsliturgie vieler Kirchen (u.a. katholisch, orthodox, lutherisch) sagt der Geistliche: „Erhebt Eure Herzen!“ und die Gemeinde antwortet: „Wir haben sie beim Herrn!“
Das ist eine neue Zugrichtung! Das Herz erheben. Nur, wie kommen wir ganz praktisch dahin?
Nüchtern und barmherzig
Seit diesem Jahr begleitet mich in verschiedenen schwierigen Herausforderungen immer wieder eine Mahnung, die ich meine von Gott zu vernehmen: „Blicke nüchtern und barmherzig darauf, so wie ICH!“
Nüchtern und barmherzig. Da muss ich natürlich an das Vergebungsgleichnis Jesu in Matthäus 18 (Verse 21 folgende) denken.
Nüchtern abrechnen
Der König, der für Gott steht, betrachtet nüchtern den riesigen Schuldenberg seines Knechtes, er macht eine nüchterne Abrechnung (Vers 23). Das Wort, das an dieser Stelle korrekt mit Abrechnung übersetzt wird, heißt im Urtext „Logos“ und bedeutet sonst „Wort“: Wir können also sagen, der Maßstab, nach dem Schuld bemessen wird und nach dem auch wir Schuld nüchtern bemessen können, ist nicht einfach unser subjektives Empfinden – auch wenn wir von dem erst einmal ausgehen müssen und dürfen! – sondern letztlich das Wort, das von Gott ausgeht: Einerseits die Bibel, andererseits das Wort Gottes in der Person Jesus (siehe Joh 1).
Barmherzig Schuld erlassen
Und dann, nach der nüchternen Abrechnung, kommt im Gleichnis die Überraschung: Obwohl der Schuldner seine Lage gar nicht begreift und nicht wirklich einsichtig ist (er verspricht ja im Vers 26, seine Schuld zurückzuzahlen, was angesichts der astronomischen Höhe völlig illusorisch ist), wird die Schuld erlassen, denn es überkommt den König (Gott) Erbarmen. Luther übersetzt dieses Wort gut mit „es jammerte ihn“ wörtlich heißt es so viel wie „es bauchte ihn“ oder verständlicher „es ging ihm durch und durch“ oder „es griff ihm ans Herz“. Zwölfmal kommt dieses Wort im Neuen Testament vor und drückt Gottes tiefstes Wesen aus, das ihn dazu trieb, sich selbst für meine Schuldverstrickung in Jesus hinzugeben, und meine Schuld auf sich zu nehmen.
Nüchtern und barmherzig – eine Aufwärtsspirale
Diese beiden Herzensperspektiven Gottes – das „nüchterne Abrechnen“ und sein „tiefstes Erbarmen“ – sollen mich anstecken! Ich will lernen, Sünde, meine eigene Schuld oder die Sünden anderer, nüchtern zu sehen. Kein Beschönigen. Keine Ausreden. Keine schnellen Entschuldigungen und Verharmlosungen. Ehrlich und ohne Angst. Und ich darf Gottes Erbarmen erleben, mir und anderen gegenüber, und dadurch selbst frei werden, Erbarmen zu haben.
So werden das nüchterne Abrechnen und das tiefe Erbarmen zu den zwei Polen einer aufwärtsgerichteten Spiralbewegung, einem Erheben des Herzens hin zu Gott:
- Je tiefer ich meine Schuld begreife, desto staunenswerter, beeindruckender wird für mich das göttliche schulderlassende Erbarmen! Ich lasse mich anstecken von Erbarmen.
- Je tiefer ich SEIN Erbarmen begreife, desto größer wird meine Bereitschaft die Tiefe meiner Schuld zu sehen. Ich öffne mich mehr für Nüchternheit.
- Je tiefer ich an mir begangenes Unrecht und das Unrecht um mich herum begreife (nüchtern abrechne), desto mehr Unfriede entsteht vorerst in mir, desto tiefer brauche ich aber auch die Erfahrung und Verinnerlichung SEINES Erbarmens, um vergeben zu können und wieder Frieden zu finden. Ich empfange tiefer Gottes Erbarmen.
- Und: Je tiefer ich Gottes Erbarmen verinnerliche, desto gelassener, realistischer, nüchterner, kann ich Schuld (meine und die anderer!) sehen oder abrechnen.
Die menschliche Unzulänglichkeit, Unduldsamkeit, Lieblosigkeit und Gottlosigkeit (zu wenig mit Gottes liebevollen Möglichkeiten rechnen) wird im „Stresstest“ unserer Zeit deutlicher sichtbar und spürbar. In der Bibel finden wir dafür den Begriff Sünde. Nichtchristen und Christen sind davon betroffen.
Mit menschlicher Sünde (in mir & um mich rum) nüchtern und barmherzig umzugehen, ist ein Schlüssel, um in chaotischen Zeiten „himmelreichstrebend“, d.h. nach oben statt hin und her gezerrt und durcheinandergebracht, zu reagieren.
Wolfram Soldan, 27.11.2021
Zum Weiterlesen:
Für die persönliche Bibellese: An 12 Stellen in den Evangelien kommt dieses „Es jammert …“ vor, meistens bezogen auf Jesus, zweimal im Gleichnis auf Gott im Himmel und einmal im Gleichnis auf einen fiktiven Menschen bezogen, hinter dem wiederum Gottes Erbarmen druchschimmert. Mit diesem tiefen Erbarmen begegnet ER Menschen und sie empfangen Befreiung: von Krankheit, Sünde, Schwäche, Hunger, Erkenntnismangel, Stummheit, Blindheit, Unglaube, Dämonisierung, Heillosigkeit, Unreinheit, Aussatz (mit Ausgrenzung), Schuld, Verwundung, Beraubung, Unvergebenheit.
Gottes Erbarmen lässt auch uns mit Hoffnung und Zuversicht zu ihm kommen und im Empfangen wachsen wir darin, selbst barmherzig mit unserem Nächsten zu sein. Lesen Sie selbst nach:
- Mt 9,35ff & 14,12ff & 15,30ff & 18,21ff & 20,31ff;
- Mk 1,40ff & 6,30ff & 8,1ff & 9,21ff;
- Lk 7,12ff & 10,33ff & 15,20ff