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Zur rechten Zeit auch Zeit haben

Zeit haben… Kürzlich bin ich wieder einmal auf das interessante psychologische Experiment „Von Jerusalem nach Jericho“ von Darley und Batson aus den 1970er Jahren aufmerksam geworden.

Die beiden Forscher stellten in diesem Feldexperiment die Hypothese auf, dass Hilfeleistung mit der Aufwendung von Ressourcen verbunden ist, und sie vermuteten, dass die Ressource „Zeit“ eine wichtige Rolle spielt:

„Ist jemand in Eile, ist es unwahrscheinlicher, dass er Hilfe anbietet als bei jemandem, der nicht in Eile ist.“

Trifft diese Hypothese zu?

Darley und Batson haben ihre Hypothese mit Theologiestudenten als Probanden überprüft – also mit Personen, von denen man annimmt, dass sie grundsätzlich zu Hilfeleistungen bereit sind.

  • Zunächst teilten sie ihre Probanden in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe nahm an einer Vorlesung über die Berufsaussichten der Studierenden teil, die andere Gruppe erhielt eine Vorlesung über das Gleichnis des barmherzigen Samariters.
  • Dann sollten die Probanden in ein anderes Gebäude auf dem Campus wechseln, bekamen aber für die Strecke unterschiedliche Anweisungen: sie können sich Zeit lassen – sie sollen sich etwas beeilen – sie sollen sich sehr beeilen, um in das andere Gebäude zu kommen.
  • Auf dem Weg in das andere Gebäude wurde ein Statist platziert, der auf dem Weg saß und akute körperliche Probleme vorspielte.

Zwei interessante Ergebnisse:

  • Das Hilfeverhalten der Probanden wurde signifikant durch die Manipulation des Zeitdrucks beeinflusst. Je stärker die Probanden unter Zeitdruck standen, in das andere Gebäude zu gelangen, desto weniger kamen sie dem hilfsbedürftigen Menschen zur Hilfe, sind einfach an ihm vorbeigelaufen.
  • Es gab auch eine weitere Tendenz, jedoch statistisch nicht signifikant. Die Personen, die sich direkt im Vorfeld mit dem biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschäftigt hatten, waren insgesamt hilfsbereiter als jene, die sich im Vorfeld mit den Berufsaussichten beschäftigt hatten. (Sozialpsychologie, Springer Verlag 2014, S.37)

Wir brauchen also Zeit, um anderen zu helfen.

Das ist sicher keine neue Erkenntnis. Wir erleben es selbst: Wir wissen um den biblischen Auftrag der Nächstenliebe und haben es persönlich auf dem Herzen, Mitmenschen zu unterstützen. Und wir tun dies gerne – solange es in unseren engen Zeitplan und unser Leben im Gesamten passt. Wenn wir aber keine Zeit haben und uns die vielen Aufgaben und Tätigkeiten über den Kopf wachsen, schieben wir das Helfen oft beiseite.

Zeit gewinnen

Im Corona-Lockdown haben einige von uns, neben vielen Einschränkungen, es doch auch positiv erlebt, dass plötzlich ein neuer Freiraum da war. Von jetzt auf gleich eine Vollbremsung des Lebens. Es fand nur noch das Nötigste statt. Die meisten hatten mehr Zeit für sich, standen nicht mehr unter Zeitdruck, gerade was Freizeitaktivitäten oder z.B. die Mitarbeit in einer Gemeinde betraf.

Und jetzt? Fast alles läuft wieder an, vielleicht für manche schon wieder zu schnell. Die Folgen der Pandemie haben in vielen Branchen zu einer höheren Arbeitsbelastung geführt, das Leben ist scheinbar komplizierter und unsicherer geworden. Durch die gesamte Situation brechen auch in den Gemeinden altbekannte Strukturen weg. Durch den Mangel an Mitarbeitern, die während der Pandemie „abhanden“ gekommen sind, haben die Einzelnen mehr zu tragen.

Zeit nehmen, um Zeit zu gewinnen

Für mich ist deshalb jetzt ein wichtiger Zeitpunkt, um innezuhalten und im Gebet zu fragen: Wie kann ich zukünftig meine Zeit einteilen? Mit was möchte ich mich beschäftigen? Wo möchte ich zukünftig für mein Leben Schwerpunkte setzen, in welche Richtung möchte ich die nächsten Monate gehen?

Ich möchte der Zeitnot nicht nur durch Stressbewältigungsübungen begegnen, durch Werkzeuge zur effektiven Zeitplanung oder durch den Versuch, meine Alltagsaufgaben dichter zu takten. Sondern davor will ich mich grundsätzlichen Fragen stellen: Wer bin ich, für was bin ich geschaffen, wo liegt meine Berufung, was möchte ich in meinem Leben erreichen, wo kann ich Gott dienen, …?

Das braucht Zeit, aber es setzt dann Zeit frei. Ich kann die alltäglichen Aufgaben mit neuer Kraft angehen und zur rechten Zeit auch Zeit haben, da, wo ich gebraucht werde.

Wie auch immer Ihr Weg aussieht, ich wünsche Ihnen genug Zeit zum Innehalten, Weisheit und Gottes reichen Segen!

Andreas Feldrapp

 

Noch ein paar Impulse zum Innehalten und gestärkt weitergehen:

Werner May: “Ganzheitliche Zeitplanung”

>>> Kreativ dargestellt in der gleichnamigen Ausgabe des kostenlosen eMagazins gehaltvoll

 

Oder vielleicht ist es auch Zeit für einen größeren Zwischenstopp, einen Seelsorgekurs, eine neue Ausbildung?